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01.11.2020

Wie weit bin ich bereit zu gehen?

Zu den wichtigsten Schritten in der Vorbereitung bzw. Auseinandersetzung mit einer möglichen Notwehrsituation gehört zweifelsfrei die Absteckung der eigenen Grenzen.

Diese sind höchst individuell und richten sich nach den eigenen Lebensumständen, dem Umfeld sowie den persönlichen Moral- und mitunter auch Religionsvorstellungen. Es gibt kein einfaches Rezept oder eine Checkliste, anhand der man diese Entscheidungen treffen kann. Sehr wohl kann man sich aber über bestimmte rote Linien Gedanken machen, deren Überschreitung durch einen Täter eine entschlossene Reaktion hervorrufen.

Für was bin ich bereit, auch die eventuell negativen Folgen einer (erfolgreichen) Notwehrhandlung (Verwundung, Gefängnis, Verlust der Existenz, psychische Folgen) zu tragen?

Einige Bereiche erscheinen dabei ganz klar. Für das eigene Leben oder sogar das seiner Kinder fällt die Entscheidung meist leicht. Für sein Handy oder den 10-Euro Schein, den man in der Geldtasche mit sich herumträgt, werden auch nur die wenigsten ihr Leben aufs Spiel setzen.

Doch wo verläuft die Grenze und vor allem wie erkennt man eine beabsichtigte Überschreitung dieser Grenze durch den Täter? Hier kommt es viel auf Menschenkenntnis, Erfahrung und Bauchgefühl an. Wie formuliert der Täter seine Forderung? Dient die Drohung des Täters „Gib mir dein Handy oder ich bring dich um?“ nur zur Unterstützung seiner Forderung oder beabsichtigt er seine Drohung wirklich umzusetzen?

Fordert der Täter eine Zigarette, weil er wirklich eine rauchen will, oder versucht er lediglich mit dieser Phrase einen Kontakt herzustellen bzw. die Distanz zu überbrücken, um einen körperlichen Übergriff vorzubereiten?
Ab wann kippt die Situation, weil die Tat nicht so verläuft, wie es der Täter vorausgeplant hat?
All das sind Fragen, die nur im Moment und nicht mit absoluter Sicherheit geklärt werden können. Wichtig ist daher, mitzudenken, die (zweifellos sehr stressige) Situation aufmerksam zu beobachten und laufend zu beurteilen. Nur so kann eine Entscheidung zum „Umschalten“ der eigenen Handlung von kooperativ auf aktiv getroffen werden.

Beschäftigt man sich im Vorfeld z.B. durch Gedankenexperimente oder Szenarien-training mit solchen Situationen, fällt die Aufrechterhaltung dieser Entscheidungs-schleife und die Vermeidung einer Blockade wesentlich leichter.

Ein wesentlicher Vorteil dieser Vorbereitung ist weiters, dass man stets die Kontrolle über die Situation behält.
Auch wenn ich den Forderungen des Täters nachgebe und z.B. mein Handy aushändige, habe ich selbst diese Entscheidung durch eine blitzschnelle Kosten-/Nutzenrechnung aktiv getroffen. Die Initiative verbleibt bei mir.

Dieses „aktiv bleiben“ und sich nicht der Situation völlig willen- und hilflos hinzugeben ist ein mächtiger psychologischer Mechanismus, der vor allem in der nachträglichen Verarbeitung solcher außergewöhnlicher Stress-situationen wichtig ist.

In unseren Kursen nehmen Szenario-einspielungen einen wesentlichen Teil ein, die genau diese Form von Entscheidungsfindung fordern und eine aktive Anwendung der oben beschriebenen Entscheidungsschleife forcieren.




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